Projekt der Aids-Beratung der eva für HIV-infizierte Männer
An die Grenze gehen – das kann zweierlei bedeuten: sich äußeren Grenzen zu nähern, zum Beispiel Staatsgrenzen. Oder an innere Grenzen zu stoßen und sie vielleicht zu überschreiten. Das gleichnamige Projekt der Aids-Beratung der Evangelischen Gesellschaft (eva) ermöglicht seinen Teilnehmern beides: Sie wandern Anfang September sechs Tage lang im Süden Baden-Württembergs und nähern sich dabei der deutsch-schweizerischen und der deutsch-französischen Grenze. Und sie lernen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und wenn möglich den Umgang damit zu verändern. Diese Grenzen erleben sie besonders dann, wenn sie neben ihrer HIV-Infektion Depressionen haben. Das Projekt „An die Grenze gehen“ wird aus Spendenmitteln finanziert: die Weihnachtsaktion der Stuttgarter Zeitung, eva’s Stiftung sowie die Firma AbbVie haben sich daran beteiligt. Mehrere Stuttgarter Apotheken unterstützen das Projekt mit Sachspenden.
Lernen, Grenzen einzuhalten
Zu den Teilnehmern der Wanderung gehört Andreas S. (Name geändert). Er habe im Lauf seiner HIV-Infektion schon zahlreiche Grenzen überschritten, berichtete der 50-Jährige bei einem Pressegespräch. Das könne positiv sein – wie vor zwei Jahren, als er die Grenze seiner restlichen Lebenszeit überschritten hat, die ihm eine Ärztin genannt hatte. Höchstens 15 Jahre hätte er noch zu leben, hatte er 1996 zu hören bekommen, als das Ergebnis seines HIV-Testes vorlag. Inzwischen sind 17 Jahre um. Andere Grenzen würde Andreas S. gerne einzuhalten lernen – zum Beispiel die, sich selbst nicht immer wieder bei der Arbeit zu überlasten. Das ist einer der Gründe, wieso er bei der Wanderung mitgeht.
Auch Nikos F. (Name geändert) möchte lernen, Grenzen zu überwinden: Er möchte sich künftig mehr zutrauen. Als er 2001 von seiner HIV-Infektion erfahren hat, wurde er depressiv, hatte psychosomatische Beschwerden und schließlich ein Krebsgeschwür. Nikos musste in eine Klinik. Er hat dadurch nicht nur seinen Arbeitsplatz verloren. Er hat sich auch zunehmend von seinen Freunden zurückgezogen und isoliert gelebt, weil er sich nicht getraut hat, über seine persönliche Lebenssituation zu sprechen. Heute bezieht Nikos eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Nun will er neue Wege für sich erschließen, um aus seiner Isolation herauszufinden.
Solidarität einer Gruppe erleben und sich selbst neu kennenlernen
Deshalb nimmt er an dem Projekt „An die Grenze gehen“ teil. Er möchte Neues kennenlernen, seine eigenen, sehr eng gesetzten Grenzen überwinden und sich auf die Begegnung mit Menschen einlassen. Es geht ihm auch darum, seine körperlichen Grenzen kennenzulernen und herauszufinden, wie weit er – trotz dieser Grenzen und mit ihnen – gehen kann.
Nikos und Andreas sind zwei von zwölf Männern, die im September sechs Tage lang auf dem Markgräfler Wiiwegli von Weil am Rhein nach Freiburg-St. Georgen wandern. Zehn der Männer sind HIV-infiziert und regelmäßig durch depressive Verstimmungen stark beeinträchtigt. Dazu kommen zwei Begleitpersonen: ein Sozialarbeiter mit Krankenpfleger-Ausbildung und der Leiter der Aids-Beratung der eva, Gerd Brunnert. Dieser hat jahrzehntelange Erfahrung darin, Menschen mit einer HIV-Infektion zu beraten und zu betreuen.
Die Teilnehmer sollen bei der Wanderung den Rückhalt, die Gemeinschaft und die Solidarität einer Gruppe erleben. Sie können sich selbst neu erleben und erkennen, wie wichtig tragfähige soziale Beziehungen sind. Dadurch lernen die einen, an ihrem Selbstbewusstsein zu arbeiten. Sie sollen den Mut entwickeln, sich neue, höhere Ziele zu stecken und die persönlichen Grenzen nach oben hin neu auszuloten. Andere lernen, nein zu sagen und Grenzen früher zu ziehen als bislang.
Symbolische Grenzen – reale Grenzen
Sowohl zu Beginn als auch am Ende der gemeinsamen Wanderung erreichen die Teilnehmer jeweils eine reale Grenze, nämlich die deutsch-schweizerische und die deutsch-französische Grenze. Am ersten Projekttag nähern die Teilnehmer sich der deutsch-schweizerischen Grenze. Hier können sie entscheiden, ob sie sich der Staatsgrenze – als Symbol für die eigenen inneren Grenzen während der Projekttage – annähern, sie erreichen oder sie überschreiten wollen.
Am letzten Tag des Projektes wird die deutsch-französische Grenze besucht. Dort gibt es eine ähnliche Übung mit dem Ziel, auszuloten, wie die Teilnehmer künftig mit ihren Grenzen umgehen möchten. „Ich hoffe, dass ich dann besser Bescheid weiß über meine eigenen Grenzen und sie auch einhalten werde“, sagte Andreas S. Wenn er nach Hause zurückkommt, soll ihm eine Postkarte dabei helfen. Auf ihr steht, was er verändern möchte in seinem Leben. Die Karte hat er sich – wie die anderen Wanderer auch – während der Wanderung selbst geschrieben und nach Hause geschickt. „Wichtig ist, dass die Teilnehmer etwas mit in ihren Alltag zurücknehmen“, erklärt Gerd Brunnert.