Beim Treff Sozialarbeit hat Experte Johannes Streif neue Ansätze im Umgang mit ADHS gefordert
„Für Diagnose und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, gibt es ein Ressourcenproblem“, beklagt Johannes Streif. Ärzte hätten Probleme, schwierige Menschen zu vermitteln, erläuterte der Psychologe. In der Psychotherapie seien zu viele Menschen, die diese gar nicht bräuchten, kritisiert er. Beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) unter dem Motto „Zwischen Stärken und Störung – ADHS als Neurodiversität“ forderte er deshalb eine Veränderung der Strukturen zur besseren Versorgung für Betroffene.
Schule, Jugendhilfe oder Gesundheitssektor dürften nach Ansicht von Johannes Streif nicht als Systeme nebeneinander handeln. „Die Partikularisierung macht Vernetzung extrem schwierig“, betont der Experte. Als positive Beispiele nannte er die Stütz- und Förderklassen für verhaltensauffällige Kinder in Bayern oder das Beispiel der USA, wo an jeder Schule eine Krankenschwester oder ein Krankenpfleger sei.
Beruf und Beziehungen sind betroffen
Während früher das „ungesteuerte Kind“, schreiend und wild, als typisches Erscheinungsbild der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, angesehen worden ist, spricht man heute von einer neurophysiologischen Störung. Diese betrifft als genetische Disposition das gesamte Leben. Streif machte deutlich, dass Betroffene bis ins Erwachsenenalter oft tiefgreifende Auswirkungen auf Berufsleben, Beziehungen und die psychosoziale Gesundheit spüren.
Er warnt jedoch davor, die Störung zu sehr zu pathologisieren. Besser wäre es, von einer „Normabweichung“ zu sprechen. Diese drücke sich in einem Bündel von Symptomen aus, zu denen Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit, Impulsivität und Hyperaktivität zählen. Unterschiedlich wirkt sich die Störung, deren Ursache in einer verzögerten Entwicklung des Gehirns liegt, bei den Geschlechtern aus. Bei Jungs sind dies mangelnde Impulskontrolle und Hyperaktivität, verbunden mit problematischem Sozialverhalten. Bei Mädchen sind dies vor allem mangelnde Aufmerksamkeit und Absonderung.
Rekordbeteiligung verweist auf großes Interesse
Bei der virtuellen Auftaktveranstaltung der diesjährigen Treff Sozialarbeit-Reihe verzeichnete die eva mit rund 170 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Rekordbeteiligung. Schließlich stellt nach Einschätzung von Experten ADHS für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte in der sozialen Arbeit eine besondere Herausforderung dar. Außerdem bringe die wachsende gesellschaftliche Anerkennung von ADHS neue Perspektiven in der Begleitung betroffener Menschen mit sich.
Wichtig ist für Streif die Erkenntnis, dass die Störung, bei der „die Verhaltenshemmung nicht richtig funktioniert“ zu 70 Prozent genetisch bedingt ist. Nur 30 Prozent machen Umwelteinflüsse aus. Dabei übe vor allem die Reizüberflutung in der heutigen Gesellschaft einen negativen Einfluss aus, so Streif. Er empfiehlt, Kinder bis zum Alter von fünf Jahren möglichst wenig Medien auszusetzen. Sie sollten nicht die ganze Zeit Hörbücher nutzen oder bei den Hausaufgaben Musik hören. Ein Smartphone sollte bis zum Alter von zwölf Jahren tabu sein. Außerdem plädiert Streif für ein generelles Smartphone-Verbot an Schulen.
Struktur im Alltag ist wichtig
Die beste Behandlung besteht für den Psychologen aus einer Mischung von Medikation und Therapie. Er empfiehlt vor allem die kognitive Verhaltenstherapie. Coaching könne helfen, Struktur in den Alltag zu bringen und eine bessere Selbstorganisation zu erreichen. Auch Selbsthilfegruppen seien eine Stütze. Als beste Anlaufstation, bei der es Empfehlungen für Betroffene gibt, ist für Streif der Verein ADHS Deutschland, dessen stellvertretender Vorsitzender er ist (www.adhs-deutschland.de).
Info: Der Treff Sozialarbeit der eva nimmt regelmäßig aktuelle sozialpolitische Diskussionen in den Fokus. Mehr zu dieser Veranstaltungsreihe steht hier: https://www.eva-stuttgart.de/download/treff-sozialarbeit