Stuttgart. Viel Not, viele Bedürfnisse – begrenzte Ressourcen. Wie ist umzugehen mit der Knappheit an Plätzen in Einrichtungen, an Wohnraum, an Mitarbeitenden? Mit der Konkurrenz der Sozialdienste? Und mit jener der Armen untereinander? Darum ging es beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 21. Januar.„Solidarität statt Konkurrenz?!“ lautete das Thema.
Armut, Krankheit, Flucht – Not hat so viele Gründe wie Gesichter. Bei aller Verschiedenheit eint alle diese Menschen: Sie brauchen einen Ort zum Leben. Doch der ist schwierig zu finden. Auf dem normalen Wohnungsmarkt haben sie keine Chance. Zu teuer ist Wohnraum in Stuttgart und Umgebung, zu knapp bemessen die Sozialwohnungen, zu unattraktiv sind sie für Vermieter. Hier greift die Wohnungsnotfall- und Wohnungslosenhilfe der Landeshauptstadt in Kooperation mit vielen freien Trägern, darunter die eva und die Ambulante Hilfe.
Für 3.700 Wohnungslose war das Sozialamt der Stadt Stuttgart 2015 zuständig– und für 6.900 Flüchtlinge. Warum diese Unterscheidung? „Für Wohnungslose und Flüchtlinge gibt es zwei unterschiedliche Hilfesysteme, die auf unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen basieren“, erklärte die stellvertretende Amtsleiterin Gabriele Reichhardt. Notfallübernachtungsplätze, Hotels, Fürsorgeunterkünfte... – Stuttgart habe ein sehr umfassendes, differenziertes System. „Wir versuchen, allen Zielgruppen gleichermaßen gerecht zu werden“, so Reichhardt.
Die Not der einen wirkt sich auf die anderen aus
Doch wirkt sich die Not der einen eben doch auf die anderen aus. Weil immer mehr Menschen in Not geraten: Die Zahl der Flüchtlinge weltweit stieg in den vergangenen zehn Jahren von rund 37 Millionen auf etwa 60 Millionen. Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Stuttgart kommen (die meisten ohne Wahl und zugewiesen, manche gezielt aus Regionen mit mangelnder „Willkommenskultur“) hat sich in den vergangenen fünf Jahren sogar mehr als verzehnfacht: von rund 640 im Jahr 2010 auf etwa 6.900 im Jahr 2015.
Das „fordert enorme Ressourcen“, sagte Reichhardt. Um ihrer Aufgabe besser gerecht werden zu können, hat die Stadt eine „Abteilung Flüchtlinge“ eingerichtet. Man arbeite längst amtsübergreifend, in Kooperation mit allen Beteiligten wie dem Amt für Liegenschaften oder dem Jobcenter. Die Strukturen sollen noch weiter verändert werden, angepasst an das, was die Realität fordert. Gibt es Konkurrenz? „Es gibt immer eine individuelle Konkurrenz“, so Reichhardt. „Im Amt gibt es aber keine Konkurrenz um Ressourcen.“
Ressourcen sind indes ein Thema beim Internationalen Beratungszentrum der eva. Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund werden dort in sozialen, rechtlichen und psychologischen Fragen beraten und unterstützt. 2015 wurden 500 Personen von der eva betreut – innerhalb der letzten drei Monate stieg diese Zahl auf 1.600. „Wir akquirieren ständig neues Personal und strukturieren um“, erklärte Armin Albrecht, der Leiter des Internationalen Beratungszentrums. „Und das im laufenden Betrieb.“ Es gehe in der täglichen Arbeit vor Ort stark um die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen, so Albrecht. Und zunehmend um Notversorgung.
Ungleichbehandlung sorgt für Unmut
Hilfe im Notfall ist die Aufgabe des Krisen- und Notfalldienstes. In Notfällen wie Familienkonflikten, Suizidgefahr, Lebenskrisen. Und „seit etwa zwei Jahren beraten wir vermehrt Menschen, die auf der Suche nach einer Notunterkunft sind“, so Stefanie Sekler-Dengler von der eva. 2015 wurden 437 Menschen in die Wohnungsnotfallhilfe vermittelt. Allein von Mai bis Oktober 2015 wurde 306 Menschen aus über 40 Ländern ein Platz in der zentralen Notübernachtung beschafft. Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling: Der eine darf (erst mal) bleiben, dem anderen „können wir dann vielleicht eine Übernachtung vermitteln – bevor er ein Bahnticket bekommt und wieder nach Hause geschickt wird“, berichtete Sekler-Dengler. Dass dem einen mehr Hilfe zuteil werden kann als dem anderen, sorgt bei den Hilfesuchenden durchaus für Unmut.
Der Zustrom neuer Hilfesuchender wirkt sich logischerweise auf das bestehende Hilfesystem aus, das ohnehin „verstopft“ ist. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die sogenannten UMFLer, träten etwa zu obdachlosen Stuttgarter Jugendlichen in Konkurrenz, so Sekler-Dengler. „Die Inobhutnahme ist hoffnungslos überbelegt. Die Kinder- und Jugendhilfe in Stuttgart ist durch die Flüchtlinge komplett überlastet.“ Es herrsche eine Solidarität unter den Diensten, aber eine Konkurrenz unter und zwischen den hilfesuchenden Menschen – um die Ressourcen, die Angebote der verschiedenen Sozialdienste und um Wohnungen. „Schon heute können die Menschen kaum aus den Notunterkünften ausziehen.“
„Konkurrenz entsteht, wenn Mangel herrscht“, so die pointierte Definition von Michael Knecht. Er und seine Kollegen von der Ambulanten Hilfe erleben das jeden Tag. Den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, an Sozialwohnungen, der zur Konkurrenz unter den Bedürftigen führt. „Die, die angewiesen sind auf Ersatzunterkünfte, spüren diese Konkurrenzsituation ganz deutlich“, so Knecht. Den existenziellen Mangel, der zu „zunehmender Konkurrenz der Armen auf der Straße“ führt. Bei Pfandflaschensammlern zum Beispiel. „Eine Konkurrenzsituation ist ein Armutsproblem“, so Knecht. „Wenn man dagegen vorgehen will, muss man die Armut bekämpfen.“ Und im Zuge dessen (sozialen) Wohnraum schaffen.
"Wir müssen das aushalten"
Symptome der Not, des Mangels mildern, darum bemühen sich die sozialen Einrichtungen tagtäglich. Wie es einem dabei gehe, bei aller erlernten professionellen Distanz oft nur kurzfristig helfen zu können, mitunter sogar überhaupt nicht, wollte der eva-Vorsitzende Heinz Gerstlauer von den Diskutanten wissen. „Für mich ist das die schwierigste Situation, die ich beruflich habe“, sagte Knecht. Wenn klar sei, ein hilfesuchender Mensch bekomme auch nirgendwo anders eine Hilfeleistung, verweise er nicht weiter, um ihn loszuwerden. „Ihm dann gegenüber zu sitzen und offen zu sein, das geht mir am längsten nach.“ „Sehr ambivalent“ erlebt Albrecht die Situation. Viele Menschen kämen nach falscher Beratung mit konkreten Erwartungen – denen dann nicht unbedingt Rechnung getragen werden kann.
Mit Verzweiflung, Wut und Ärger der Hilfesuchenden sind die Mitarbeitenden der Sozialdienste konfrontiert. Es sei schwer, diese Emotionen auszuhalten, so Sekler-Dengler. „Aber wir müssen das aushalten.“ Auch Reichhardt fühlt mit. „Aber wir dürfen die berührende und die gesetzliche Situation nicht verwechseln.“ Helfen, wie es im gesetzten Rahmen möglich sei – damit sei schon viel erreicht. „Wir sind Teil einer Welt. Wir können nicht die Verantwortung für die ganze Welt übernehmen. Aber wir können versuchen, unseren Stuttgartern gute Angebote zu machen.“
Wie kann das – noch besser – gelingen? Wie kann dem Konkurrenzkampf unter den Hilfebedürftigen begegnet werden? Um diese Fragen ging es in der abschließenden Diskussion. Die Not der einen im Fokus zu haben, darf nicht bedeuten, die Not der anderen aus den Augen zu verlieren. Das gilt gerade auch für die öffentliche Wahrnehmung. Transparenz ist wichtig. Es muss deutlich sein, welche Gruppen welche Leistungsansprüche haben. Wer was leisten kann und was nicht. Diejenigen, die helfen, müssen zwangsläufig lernen, mit der Knappheit umzugehen – doch auch nach außen tragen, was sie brauchen. Die Not der einen darf nicht gegen die Not der anderen ausgespielt werden. Es gilt beispielsweise, die Aufmerksamkeit und Ehrenamts-Bereitschaft, die den Flüchtlingen zuteil wird, zu nutzen – auch für die anderen Bedürftigen. „Wenn Konkurrenz durch Mangel definiert ist... dann haben die Dienste keinen Mangel, weil alle ausreichend mit Klienten versorgt sind“, so Knecht. Galgenhumor. Im Ernst: „Es geht um die Reduzierung des Mangels bei den Betroffenen. Das ist unsere Aufgabe. Grundsätzlich.“ Dabei sind alle gefragt.