Altes Gebäude von 1960 wird abgerissen – Baukosten liegen bei 5,8 Millionen Euro – eva sucht dringend Büroräume in Zuffenhausen oder Rot für Arbeit mit Familien
Stuttgart. Nicht mit einem Spatenstich, sondern mit einem Baggerbiss ist am Freitag, 20. Juli, offiziell mit dem Bau des neuen Flattichhauses in Stuttgart-Rot begonnen worden. Der Neubau der Evangelischen Gesellschaft (eva) bietet künftig 37 Plätze für Kinder, Jugendliche und Familien, die Hilfen zur Erziehung erhalten. Der erste Bauabschnitt soll bis Anfang 2019 fertig gestellt werden, danach wird das alte Gebäude von 1960 abgerissen. Bis 2020 wird ein zweites Haus gebaut. Die Baukosten liegen insgesamt bei 5,8 Millionen Euro.
Das Flattichhaus wurde 1960 als Jungenwohnheim eröffnet. Das Gebäude hat den damals üblichen Heimcharakter. Die Betriebskosten sind hoch, das Haus müsste energetisch saniert, die Haustechnik überholt werden. Eine Brandschau hat 2011 zudem gezeigt, dass die Brandschutzeinrichtung stark nachgerüstet werden müsste. Die Umbaukosten wären sehr hoch gewesen. Deshalb wird auf dem gleichen Gelände ein Neubau erstellt. Er soll die heutigen pädagogischen Anforderungen erfüllen, aktuellen Brandschutz und moderne Gebäudetechnik bieten und wirtschaftlich sein.
Nach dem Baggerbiss soll der erste Bauabschnitt rasch fertiggestellt werden. Die Gebäude werden in einer Holzrahmenbauweise erstellt, weswegen der Bau vor Ort nur etwa sechs Monate dauern soll. Er denke, dass um Weihnachten die Schlüssel an die eva übergeben werden könnten, sagte Jörg W. Nusser, geschäftsführender Gesellschafter der ausführenden Baufirma Nusser Systembau. Anfang 2019 sollen die bestehenden Wohngruppen, die Leitung und die Verwaltung in das neue Gebäude einziehen. Danach wird das alte Flattichhaus abgerissen, anschließend beginnt hinter dem bisherigen Haus der Bau des zweiten Gebäudes, das 2020 fertig gestellt sein soll.
Der alte Bau wurde seit 1960 unterschiedlich genutzt. Eines blieb gleich: Hier haben immer junge Menschen gewohnt. Zunächst Jugendliche, die vor dem Bau der Mauer aus der DDR in die damalige Bundesrepublik übergesiedelt sind. Später diente das Haus als Lehrlingswohnheim für junge Männer, die eine Ausbildung in Stuttgart machten. Ab 1967 bot das „Heilpädagogische Zentrum Flattichhaus“ zwei stationäre heilpädagogische Intensivgruppen, in den 1970-er Jahren wurden ein Sonderschulkindergarten sowie weitere Wohngruppen eröffnet, teils als Außenstellen. Später gab es auch Tagesgruppen, die Kinder gingen abends nach Hause zu ihren Eltern.
Heute bieten die Fachkräfte der Hilfen zur Erziehung direkt vor Ort individuelle und flexible Hilfen an: bei Eltern und Kindern zu Hause, im Kindergarten, in der Schule oder bei Behörden. Falls die Kinder und Jugendlichen über einen kürzeren oder längeren Zeitraum nicht in ihrer Familie leben können oder wollen, können sie in einer Wohngruppe im Flattichhaus leben, wo sie von Sozialpädagogen oder Jugend- und Heimerzieherinnen im Alltag pädagogisch unterstützt werden. Eine zweite Wohngruppe im Haus nimmt ganze Familien auf. Der Ansatz dieser „SIT-Wohngruppe“ ist innovativ und einzigartig in Stuttgart: die Eltern werden bei ihrer Erziehung unterstützt, die Verantwortung bleibt gänzlich bei ihnen.
Wichtig für die Fachkräfte ist: Sie orientieren sich nicht an den Defiziten, sondern an den Stärken und Veränderungsideen der Familien. Das passe zum Motto des Namensgebers des Hauses, sagte beim Baggerbiss Dr. Susanne Heynen, die Amtsleiterin des Jugendamtes Stuttgart. Johann Friedrich Flattich habe sein Leben nach dem Satz gestaltet: „Man muss mit dem Glauben anfangen und nicht bei den Missständen.“
Der Name Flattichhaus wird erhalten bleiben, der Glaube an Veränderungsmöglichkeiten durch die Hilfen zur Erziehung ebenfalls. Wenn das Neubauprojekt abgeschlossen ist, gibt es in den beiden neuen Gebäuden Platz für Wohngruppen mit insgesamt 37 Plätzen, Büros für Leitungskräfte und die Verwaltung sowie Besprechungsräume.
„Wir hoffen und wünschen, dass die Kinder und die Mitarbeitenden das Haus einmal annehmen, dass sie sich hier wohlfühlen werden“, sagte Heinz Gerstlauer, Vorstandsvorsitzender der eva, beim Baggerbiss. „Räume engen ein oder geben Freiraum. Es gibt Räume, die vermitteln das Gefühl der Verlorenheit, andere das der Geborgenheit. Wir streben hier Freiraum und Geborgenheit an.“
Die Mitarbeitenden der ambulanten Hilfen zur Erziehung werden in Büroräume im Stadtteil ziehen, um räumlich noch näher bei den Familien zu sein. Hierfür sucht die eva dringend Büroräume in Stuttgart-Zuffenhausen oder -Rot. „Falls Sie solche Räume haben, melden Sie sich bei uns!“, bat Heinz Gerstlauer beim Baggerbiss.