Jahresrückblick der Stuttgarter TelefonSeelsorge – auch katholische Stelle Ruf und Rat bietet jetzt Chatberatung an – Modellprojekt der evangelischen Stelle mit Hochschule
Stuttgart. „Das ist mir doch egal, wie Sie das hinkriegen – beeilen Sie sich gefälligst!“ herrscht ein Vorgesetzter seine Sekretärin an, die einen terminierten Bericht in drei Stunden fertigstellen soll, weil sonst eine Vertragsstrafe droht. Dass sie die Vorlage schon seit drei Wochen angemahnt hatte, ist ihm egal. Die Frau weint vor Wut, Hilflosigkeit und Erschöpfung, als sie bei der TelefonSeelsorge anruft, nachdem sie den Bericht rechtzeitig fertig gemacht hat. Heftige innere Spannungen können in Gewalt gegen andere ausarten. Sie können Betroffene aber auch in selbstverletzendes Verhalten oder gar in den Suizid treiben, wenn die Konflikte zu lange schwelen und nicht geklärt werden können. Gespräche mit der TelefonSeelsorge können den Anrufenden helfen, aus der akuten Spannung heraus zu kommen. Damit verhindern sie oft Schlimmeres. Darüber haben jetzt die beiden Leiter der Stuttgarter TelefonSeelsorge berichtet, Krischan Johannsen für die evangelische TelefonSeelsorge Stuttgart und Thomas Krieg für die katholische Stelle Ruf und Rat.
Besonders deutlich wird die präventive Wirkung dieser Seelsorge bei Gesprächen mit akut suizidalen Menschen. Das waren im Jahr 2016 bei den beiden Stuttgarter Stellen 6 Prozent der Anrufenden. Meist sind es nur wenige Stunden, in denen der Schritt, in den Tod zu gehen, ganz leicht wäre. Ein Anruf bei der TelefonSeelsorge löst diese akute Spannung. Oft reicht schon dieses eine Gespräch, dem Todesdruck zu entkommen – und der nächste Tag wird wieder lebbar.
Fast ein Drittel der weit über 50.000 Menschen, die 2016 bei der TelefonSeelsorge angerufen haben, führten mit einem der 183 ehrenamtlich und 3 hauptamtlich dort Arbeitenden ein Seelsorge- oder Beratungsgespräch. Bei mehr als jedem fünften der Ratsuchenden ging es um depressive Stimmungen, bei 15 Prozent um Ängste, 13 Prozent der Anrufer waren isoliert und einsam. Fast die Hälfte der Anruferinnen und Anrufer waren zwischen 40 und 59 Jahre alt, ein knappes Drittel über 60 Jahre.
Anders ist die Altersverteilung bei der Chatberatung, sie spricht besonders jüngere Menschen an. Etwa ein Drittel der 617 Ratsuchenden des vergangenen Jahres waren hier zwischen 20 und 30 Jahre alt, rund 20 Prozent zwischen zehn und 20 Jahre. Diese Form der Beratung gibt es seit einem Jahr von beiden Stuttgarter Stellen, bisher war sie nur von der evangelischen Stelle angeboten worden. Beratungschats sind noch anonymer als die Telefonate – und dennoch oft viel direkter und berührender. „Die Menschen, die sich hier melden, zeigen ihre Probleme viel direkter und schneller“, berichtet Michael Müller (Name geändert), der bei der katholischen Seelsorgestelle Ruf und Rat ehrenamtlich sowohl am Telefon als auch im Chat berät. Im Schutz der großen Anonymität schreiben über 90 Prozent von wichtigen seelsorgerlichen, sehr belastenden Themen. Diese sind anders verteilt als bei der telefonischen Beratung. 22 Prozent der Ratsuchenden wollten sich das Leben nehmen, 29 Prozent waren in einer depressiven Stimmung, 25 Prozent trugen Ängste mit sich herum. Jeder Zwanzigste berichtete von körperlicher und seelischer Gewalt in Beziehungen, Schule und Familie.
Oft ist es so, dass die Beraterinnen und Berater das Gefühl gewinnen, dass hier jemand zum ersten Mal in seinem Leben etwas sehr Schambesetztes, Schwieriges „aussprechen“ kann. Es ist gar nicht leicht, in solchen Situationen die richtigen Worte zu finden sowie eine Sprache, die den Schreibern und Schreiberinnen entspricht. Deshalb nehmen alle Ehrenamtlichen für die Chat-Beratung zusätzlich zur normalen Ausbildung noch einmal rund 60 Stunden Fortbildung auf sich, um für diese Arbeit fit zu sein.
Anders war der Zugang zur Beratungsarbeit 2016 bei einem Kooperations-Projekt der evangelischen TelefonSeelsorge-Stelle mit der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Bei diesem Modellprojekt haben 18 Studentinnen an einer 60 Stunden umfassenden Ausbildung zur Chatberaterin teilgenommen. Das Projekt wurde von der Hochschule durch eigene Seminare mit vier Semesterwochenstunden begleitet. Die Studentinnen hatten während des Projekts viel Kontakt mit den erfahrenen Beraterinnen und Beratern. Die vielen Begegnungen waren für alle Beteiligten eine großer Gewinn. Sechs Studentinnen sind inzwischen fest als Chatberaterinnen in die Arbeit der Stelle integriert.
Wieso so viele Menschen bei der Telefonseelsorge ehrenamtlich arbeiten, dafür eine zweijährige Ausbildungszeit auf sich nehmen und anschließend viel Zeit aufwenden, um am Telefon oder im Chat zu beraten und an Supervisionen teilzunehmen? Sabine Schmidt, ehrenamtliche Mitarbeiterin der evangelischen TelefonSeelsorge, macht es, weil sie hier ihre Zeit sinnvoll verbringen kann. Für sie hat die Arbeit einen weiteren Effekt: wenn man höre, welche tiefgreifenden Probleme andere Menschen hätten, „kann man dankbar für sein Leben sein“, sagt sie. Und ergänzt: „Da entsteht so eine Form der Demut.“
Info: Die TelefonSeelsorge ist an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr kostenlos erreichbar: die evangelische TelefonSeelsorge Stuttgart unter 0800.111 0 111, die katholische Stelle Ruf und Rat unter 0800.111 0 222. Termine für die Chatberatung können über die Homepage der TelefonSeelsorge unter chat.telefonseelsorge.org vorab bei einem Ehrenamtlichen „gebucht“ werden – mit einem Vorlauf von bis zu drei Tagen. Beide TelefonSeelsorge-Stellen freuen sich über weitere Ehrenamtliche.