Evangelische und katholische Telefonseelsorge der Region Stuttgart stellen ihre Jahresberichte vor – neue Entwicklungen bei Anrufenden
Stuttgart. Es sind zwei unterschiedliche Entwicklungen, die sich derzeit in der Arbeit der Telefonseelsorge beobachten lassen. Zum einen melden sich immer mehr junge Männer, weil sie Orientierung suchen. Zum anderen nehmen die Themen Flucht, Flüchtlinge und die Angst vor Überfremdung einen immer größeren Raum in den Gesprächen ein.
Junge Männer gehen heute offener mit ihren Problemen um
Jahrzehntelang galt ein Grundsatz als unumstößlich: die deutliche Überzahl der Frauen bei den Anrufenden. Wenn man die Gesamtzahlen betrachtet, ist dies auch immer noch so, 68 Prozent der Anrufenden bei der Telefonseelsorge sind weiblich. In einer Altersgruppe aber zeichnet sich eine bemerkenswerte Veränderung ab: fast die Hälfte der 5000 Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren, die sich im vergangenen Jahr gemeldet haben, sind männlich. „Jüngere Männer können eher über ihre Probleme reden. Es ist kein Tabu mehr, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie haben gelernt, dass sie nicht alle Probleme alleine lösen müssen“, stellt Thomas Krieg fest, der Leiter der katholischen Telefonseelsorge Ruf und Rat. Aus Sicht von Krieg deutet sich in den Zahlen eine gesellschaftliche Veränderung an. Es wachse eine Generation heran, die sich viel selbstverständlicher Unterstützung und Hilfe suche – und zwar unabhängig vom Geschlecht. Was die jungen Männer antreibt, sich bei der Telefonseelsorge zu melden, sind Orientierungsprobleme auf dem Weg zum Mann sein. „Die alten männlichen Rollenbilder tragen nicht mehr“, sagt Thomas Krieg.
Die Flüchtlingskrise findet Widerhall in den Gesprächen
Ein Thema taucht in immer mehr Gesprächen auf, ganz unabhängig vom Alter der Anrufenden: die Flüchtlingskrise. Statistisch lässt sich zwar noch keine feste Aussage treffen, doch der Trend ist aus Sicht von Krischan Johannsen, dem Leiter der evangelischen Telefonseelsorge, unübersehbar. Die gesellschaftliche Veränderung durch die starke Zuwanderung treibt viele Menschen um. „Es ist die Angst vor einer Überfremdung, die spürbar wird, aber nicht nur“, so Johannsen. Bei anderen Anrufenden werde durch die Flüchtlingskrise die eigene Fluchtgeschichte wieder aus der Erinnerung nach oben gespült und müsse neu verarbeitet werden. Dann wieder gebe es Anrufende, die aus ihrer Abneigung gegen die Zuwanderer keinen Hehl machen. Sie werden von dem Gefühl getrieben, dass den Flüchtlingen Sozialleistungen hinterhergeworfen werden, während sie selbst auf der Strecke bleiben. Daneben melden sich Menschen, die sich mit viel Herzblut in der Flüchtlingshilfe engagieren, sich aber überfordert fühlen. „Wir haben zum Beispiel Anrufer, die einen jugendlichen Flüchtling zu Hause aufgenommen haben und die einfach jemand brauchen, der ihnen zuhört“, erzählt Krischan Johannsen.
Seelische Probleme sind der häufigste Grund für die Anrufe
Doch das Thema Flüchtlinge ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den insgesamt 45.000 Gesprächen, die bei der evangelischen und katholischen Telefonseelsorge in Stuttgart im vergangenen Jahr eingegangen sind. Die Haupt- und Ehrenamtlichen der beiden Stellen führen zwischen 60 und 70 Gespräche jeden Tag. Oft rufen Menschen an, die Brüche und schwere Schicksalsschläge zu verkraften haben. Sie melden sich, weil sie nicht mehr weiter wissen und an ihrem Leben verzweifeln. Unter den Anrufenden finden sich zum Beispiel Frauen und Männer, die nach dem Sinn in ihrem Leben fragen, weil sie den Menschen verloren haben, der ihnen am nächsten stand.
Seelische Probleme sind der häufigste Grund für die Anrufe. 22 Prozent der Hilfesuchenden leiden an Depressionen, 13 Prozent an Ängsten. Bei etwa 17 Prozent der Anrufenden sind Konflikte in der Familie und der Partnerschaft der Grund für den Anruf, bei weiteren 12 Prozent ist Streit mit Nachbarn oder Freunden oder die eigene Einsamkeit der Auslöser. Bei ungefähr 30 Prozent der Anrufenden liegt eine psychiatrische Diagnose vor. Diese rufen an, weil der Psychiater oder Psychologe im Urlaub, im Wochenende oder schlicht nachts nicht zu erreichen ist. Neben der Psychiatrie und den ambulanten Krisendiensten ist das Angebot der Telefonseelsorge durch die 24-Stunden-Erreichbarkeit nach wie vor ein unverzichtbarer Teil des bundesdeutschen Hilfesystems.
Die Ehrenamtlichen werden mehrere Monate geschult
160 Frauen und Männer arbeiten ehrenamtlich bei den beiden Telefonseelsorgestellen mit. Sie versuchen, verzweifelten Menschen wieder ein Stück Hoffnung zu geben, sie aufzurichten oder einfach nur eine kurze Zeit am Telefon mit ihnen zu gehen. Die Ehrenamtlichen müssen sich auf eine mehrmonatige Ausbildung einlassen, zu der eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person genauso gehört wie das Erlernen von Methoden der Gesprächsführung. Sie verpflichten sich dazu, nach der Ausbildung eine bestimmte Zeit bei der jeweiligen Telefonseelsorge mitzuarbeiten. Vorausgesetzt wird auch die Bereitschaft, nachts Dienst zu tun. Trotz der hohen Anforderungen, die an die freiwilligen Helfer gestellt wird, ist Thomas Krieg überzeugt: „Die Ehrenamtlichen empfinden ihre Tätigkeit als etwas sehr Sinnvolles, sie fühlen sich aufgehoben in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten.“ Deshalb bleiben viele Ehrenamtliche auch sehr viel länger bei der Telefonseelsorge, als von ihnen erwartet wird.
Sowohl die evangelische als auch die katholische Telefonseelsorge bildet regelmäßig Ehrenamtliche aus, bei Ruf und Rat beginnt der nächste Ausbildungskurs im September. Nähere Angaben finden sich auf den beiden Homepages der beiden Telefonseelsorge-Stellen (s.u.).